Tagebuch

Kapitel I: Beschwerden und ein erster Arztbesuch

Im September 2010, kurz vor der Vollendung meines einundvierzigsten Lebensjahres, hatte ich von Zeit zu Zeit leichte Lähmungserscheinungen in meinem rechten Arm, eigentlich war es zunächst nur ein starkes Kribbeln an der Innenseite des Armes, das Gefühl, als ob dieser gleich einschlafen würde. Diese traten immer öfter auf, und nach etwa zwei oder drei Wochen stellte ich fest, dass drei meiner Finger ein Taubheitsgefühl aufwiesen, der Daumen, der Zeige- und der Mittelfinger. Zuerst empfand ich diesen Zustand nur als lästig, es waren ja keine starken Schmerzen und ich musste nur etwas mehr Konzentration aufbringen, um die Finger – beispielsweise beim Tippen an der Tastatur oder beim Tragen von Gegenständen- unter Kontrolle zu halten.

Je länger dieser Zustand anhielt, desto panischer wurde ich. Nun muss ich dazu erläutern, dass mein linker Arm durch eine Lähmung, die medizinisch als Erb Duchenne bezeichnet wird, fast vollständig ausfällt, was bedeutet, das ich mein gesamtes Leben mit dem rechten Arm bestreite und mir mit diesem natürlich auch meinen Lebensunterhalt verdiene- ich bin schlichtweg darauf angewiesen, dass er zu hundert Prozent funktioniert. Folglich war ich aufgrund der nicht nachlassenden Beschwerden zunehmend besorgt und beschloss daraufhin einen Arzt aufzusuchen. Aber was für einen Arzt? Ich vereinbarte einen Termin mit einem Traumatologen, hoffend, dass dieser mir helfen könne und darauf vertrauend, dass er mich anderenfalls an einen anderen Facharzt verweisen würde.

Nach siebenwöchiger Wartezeit gewährte mir der Traumatologe genau zwei Minuten seiner Aufmerksamkeit. Nach einer kurzen Schilderung meinerseits stellte er rasch fest, dass dies mit Sicherheit von der Halswirbelsäule herrühren würde. Ich solle einen Termin für Kernspintomographie vereinbaren und mit dem Ergebnis wiederkommen.

Kapitel II: Diagnose und erster Behandlungsversuch



Mit dem Ergebnis meiner Kernspintomographie erhielt ich nach einigen Wochen einen erneuten Termin beim Traumatologen, welcher vier Bandscheibenvorfälle in der Halswirbelsäule diagnostizierte, zwei alte zwischen den Halswirbeln zwei und drei und drei und vier, die bereits verknöchert wären und bis auf ihre Fehlstellung derzeit keinen weiteren Schaden anrichten würden. Die Bandscheibenfälle zwischen den Halswirbeln fünf und sechs und sechs und sieben seien frischer und würden durch ihre Fehlstellung Nervenbahnen einklemmen, was zu den Lähmungserscheinungen im rechten Arm führen würde. Als Therapie wurden mir zunächst verschiedene Rehabilitationsmaßnahmen verordnet, allerdings mit der Anmerkung, dass diese womöglich keinen großen Effekt erzielen würden, aber es wäre erforderlich Schritt für Schritt vorzugehen- und dies war nun der erste Behandlungsschritt.

Über den Zeitraum von drei Monaten ging ich nun an jedem Wochentag zur Rehabilitation, erhielt Behandlungen mit Ultraschall, Strom und eine Magnetfeldtherapie.Die mir dort zugeteilte Ärztin verschrieb mir gleichzeitig das Medikament Lyrica, welches hervorragend gegen die Nervenschmerzen wirken sollte.

Mit der Zeit begann ich, unter starken Schmerzen zu leiden, die Tabletten bekämpften diese zwar einigermaßen, doch zeigten sie vehemente Nebenwirkungen: Eine immense Appetitsteigerung und starke Müdigkeit. Da ich zu der uneinsichtigen Sorte Mensch gehöre, die sich unverständlicherweise an ihrem Arbeitsplatz für unentbehrlich halten,kam eine Krankschreibung für mich nicht in Betracht, und da ich am Arbeitsplatz fit sein musste, habe ich die Medikamente zunächst in möglichst geringer Dosis eingenommen, um nicht zu schnell müde zu werden.

Die Schmerzen wurden stetig stärker und kurz vor Weihnachten, nach etwa dreimonatigen Anwendung der Rehabilitationsbehandlungen, ohne auch nur den geringsten Erfolg, hatte ich einen erneuten Termin beim Traumatologen, der als nächsten Behandlungsschritt eine “Risolisis” vorschlug.

Kapitel III: Zweiter Behandlungsschritt und voranschreitende Verzweiflung



Die “Risolisis” ist ein kleiner operativer Eingriff unter örtlicher Betäubung, bei welchem die Nervenenden abgebrannt werden, hierdurch wird zwar die Schmerzursache nicht behoben, aber man hofft auf eine teilweise bis komplette Schmerzfreiheit des Patienten als Ergebnis.

Nach vier Tagen Übelkeit und Fieberanfällen hatte ich mich von dem Eingriff erholt, aber auch sechs Wochen später konnte ich dem Traumatologen wieder nur berichten, dass ich keinen Effekt verspüren würde, die Schmerzen und auch das Taubheitsgefühl in Arm und Fingern verstärkte sich stetig. Als er vorschlug, den Eingriff in sechs bis acht Wochen zu wiederholen, stand für mich fest, dass dieser Arzt mir offensichtlich nicht weiterhelfen konnte und ich mir anderweitig Hilfe würde suchen müssen.

Kapitel IV: Arztwechsel und Operationsbeschluss



Durch einen Zufall ergab sich die Möglichkeit zu einem Gespräch mit einer in Deutschland tätigen Koryphäe auf dem Gebiet der Wirbelsäulenerkrankungen, der Professor war so freundlich, sich die Zeit zu nehmen, meine Röntgenaufnahmen und die Ergebnisse der Kernspintomographie eingehend zu studieren, und hatte er zuvor noch geäußert, dass nur in 90% der Fälle wirklich eine Operation erforderliche sei, da es zahlreiche Alternativmethoden gäbe, so kam er nach Einsicht in meine Untersuchungsergebnisse zu dem unzweifelhaften Resultat, dass eine Operation unvermeidbar sei und so schnell wie möglich vorgenommen werden sollte, um eine Schädigung der Nerven- die ja wahrscheinlicher wird, umso länger die Nervenbahnen eingeklemmt sind- weitestgehend zu vermeiden. Statt sich in Anwesenheit einer Koryphäe in angemessener Weise zusammenzureißen, übermannte mich in diesem Moment meine Verzweiflung über die inzwischen monatelang anhaltenden Schmerzen und die Angst über eine Schädigung des mir einzig zur Verfügung stehenden Armes und ich musste meinen Tränen freien Lauf lassen. Der Herr Professor wäre nicht so renommiert, wie er es ist, wenn ihn dies aus der Fassung gebracht hätte, er tröstete mich auf einfühlsam liebevolle, menschliche Weise und hielt einfach meine Hand.

Er riet mir, nur den besten Chirurgen aufzusuchen, ich sollte mich bei Osttopathen und Physiotherapeuten umhören, wer für diese Art der Operation die Nummer eins im Land sei- zu dem sollte ich gehen und NUR zu dem.

Kapitel V: Chirurgen-suche und Konsultation eines Neurologen



Sowohl zwei Physiotherapeuten meines Vertrauens als auch meine hier geborene beste Freundin empfahlen mir auf Anhieb den Namen eines hier ansässigen Neurochirurgen , das sei zweifellos die Nummer eins. Mein Physiotherapeut empfahl mir außerdem einen guten Neurologen, den ich aufsuchen solle, damit er mir dabei helfen würde, die Wartezeit bis zur Operation gut zu überstehen.

Besagter Neurochirurg ist in zwei Kliniken tätig, und als ich Anfang Februar 2011 um einen Termin bat, schlug man mir in der ersten Klinik einen Termin im Juli vor, und in der zweiten erstaunlicherweise bereits am 12. April- ich musste also noch zwei Monate überstehen. Doch zunächst suchte ich den empfohlenen Neurologen auf, welcher zuerst eine aktuelle Kernspintomografie anordnete und mir verschiedene Medikamente verschrieb, anfangs sollte ich eine Cortison- Kur machen. Mit diesem Medikament hatte ich keinerlei Erfahrung, ich sollte mit einer hohen Dosis beginnen, die nach drei Tagen auf die Hälfte, nach weiteren drei Tagen abermals um die Hälfte reduziert, und nach neun Tagen abgesetzt werden sollte. Die Erfahrung war recht zwiespältig, in den ersten drei Tagen waren die Schmerzen wie weggeblasen- eine wirklich tolle Erfahrung, aber das Medikament nahm mir nicht nur den Schmerz, sondern auch jegliche Kräfte, das Arbeiten wurde zum Krampf und sobald ich abends die Haustür hinter mir geschlossen hatte, fiel ich gegen 17.30 Uhr am helllichten Tage völlig erschöpft in den Schlaf.

Im Anschluss an diese Kur nahm ich morgens etwas zum Aufheitern und zur Muskelentspannung und etwas gegen den Schmerz, mittags etwas zum wach bleiben und etwas gegen den Schmerz, abends etwas gegen Depressionen, Schmerzmittel und etwas für einen ruhigen Schlaf. So kam ich zwar “über die Runden”, was heißen soll, dass ich meiner Arbeit nachgehen konnte, aber mit der Zeit ließen mich mein Körper und meine Nerven wissen, dass es zu viel wurde- ich war wie ferngesteuert.

Kapitel VI: Termin beim Chirurgen und Wartezeit



Am 12. April hatte ich dann endlich den Termin bei dem Neurochirurgen und war voller Zuversicht, dass er mir würde helfen können. Meine Erwartungen wurden nicht enttäuscht, der nicht mehr ganz junge Herr Professor strahlte eine derartige sachliche Ruhe und Kompetenz aus, die mich sofort Vertrauen fassen liessen. Er erklärte mir nochmals die Diagnose und bot als Lösung das Einsetzten zweier Bandscheiben- Prothesen an, wobei er mir gleich das von ihm bevorzugte Modell nannte, damit ich die Kostenübernahme durch meine Krankenkasse vorab klären könne. Er erklärte mir, dass dies die sicherste Methode sei, die Nerven wieder zu entlasten und die bereits erheblich verformte Halswirbelsäle wieder einigermaßen zu richten, sodass ich künftig keine Beschwerden mehr haben sollte. Auch menschlich erwarb er sich mein Vertrauen, indem er berichtete, stets ein Operationsteam mit seinem Sohn zu bilden und dass sie vier Operationen pro Woche durchführen würden- und bisher wäre noch nie etwas schief gegangen. Ich hatte keinerlei Zweifel an diesem Mann- was hätte es mir auch genützt, ich hatte ja keine Wahl.

Dann hieß es warten, wir rufen Sie zur Terminmitteilung an- Rufen Sie uns nicht an, wir rufen Sie an. Leichter gesagt als getan, die Schmerzen wurden Woche für Woche stärker, die Medikamentendosis höher, soweit ich das vor mir selbst vertreten konnte. Trotzdem war ich zwei Monate später bereits soweit, dass ich mir beim Aufstehen schon die Tränen kamen und ich mich abends wieder in den Schlaf weinte, hätte ich mich krankschreiben lassen, wäre ich durchgedreht, durch die Arbeit war ich gezwungen, mich weitestgehend zusammenzureißen.

An einem Abend, als ich das Gefühl hatte, keinen Tag länger durchzuhalten, fuhr ich in die Klinik und platzte unangemeldet in die Sprechstunde des Chirurgen, ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen. Er erklärte mir, dass ich bereits zweimal auf der Liste für die kommende Woche gestanden hätte, aber immer eilige Gehirnoperationen dazwischen gekommen waren- er zeigte mir sogar seinen Terminkalender, aus welchem zu entnehmen war, wie viele Hirntumore er in der letzten Wochen operiert hatte- überwiegend bei Kindern. Selbstverständlich haben solche Fälle Vorrang vor ein paar kaputten Bandscheiben- ich fühlte mich hundeelend. Er versprach mir einen Termin innerhalb der nächsten vierzehn Tage.

Kapitel VII: Die Operation



Es war Donnerstag, der 30. Juni, als mein Handy klingelte und ich die erlösende Mitteilung erhielt, dass die Operation für den kommenden Mittwoch vorgesehen sei- ich kann meine Erleichterung gar nicht in Worte fassen. Glücklicherweise war diese kurzfristige Planung am Arbeitsplatz kein Problem, weil ich erstens die besten Chefs der Welt habe und zweitens sie beide stets über den Stand der Dinge informiert hatte.

Familie und Freunde habe ich über die bevorstehende Operation informiert, und die meisten haben sich mit mir gefreut, aber andere konnten ihre Sorge nicht unterdrücken, bei solchen Operationen kann doch so viel passieren… natürlich kann es das, das war mir auch bewusst. Aber Tatsache ist nun einmal, dass der Eingriff unvermeidbar war und ich mir wirklich davon versprach, endlich wieder Lebensqualität zu haben, welche mir in den Monaten vor der Operation gänzlich verloren gegangen war. Ich schaute einfach nur nach vorn.

Ich dachte, dass mich die Angst kurz vor dem Eingriff einholen würde, aber selbst das war nicht der Fall. Erst als ich allein und nur mit dem Kittel bekleidet im Vorbereitungsraum lag, flossen ein paar Stille Tränen.

Kapitel VIII: Die ersten postoperativen Tage



Direkt nach der viereinhalb stündigen Operation wurde ich für vierundzwanzig Stunden auf die Intensiv- Station gebracht, wo man sich wirklich rührend um mich kümmerte, vor allem, nachdem die Nachtschwester feststellen musste, dass weder die Schmerz- noch das Schlafmittel bei mir anschlugen, was sicher auf meinen vorangegangener pharmazeutischer Streifzug zurückzuführen war. Als ich nach zwölf Stunden das erste Wasser zu mir nehmen konnte, waren meine Lebensgeister wieder geweckt. Als der Chirurg nach mir sah, fragte ich, ob dieser komplette Medikamentenentzug zu empfehlen sei, und er riet mir dazu, dann wäre es wenigstens überstanden. Ich folgte diesem Rat und ich muss zugeben, dass die darauffolgenden drei bis vier von Schlaflosigkeit und Halluzinationen geprägten Nächte unschön waren, aber da ich in einem Einzelzimmer lag konnte ich ja niemanden stören, somit konnte ich jederzeit Licht machen und lesen, oder mich mit einem Hörbuch betäuben, was mir auch bei in den darauffolgenden Wochen verschiedentlich auftretenden Schlafstörungen stets geholfen hat, ohne trübe Gedanken wieder in den Schlaf zu finden.

Auf der normalen Belegstation blieb ich noch weitere drei Tage, dann wurde ich bereits nach Hause entlassen. Als Medikation nahm ich lediglich eine leichte Ibuprofen-Tablette und nach Bedarf bis zu drei Paracetamol in Verbindung mit einer den Magen schonenden Tablette- ansonsten nichts. Für fünfzehn Tage sollte ich die Halskrause tragen, nach vierzehn Tagen wurden die Klammern aus der Wunde entfernt.

Kapitel IX: Genesung



Derzeit befinde ich mich in der vierten postoperativen Woche, und ich bin zunächst noch für zwei Wochen krankgeschrieben, danach werde ich vermutlich meine Bürotätigkeit wieder aufnehmen können. Nicht zuletzt dank meines sich rührend um mich kümmernden Lebensgefährten verlief der Heilungsprozess bei mir sehr gut, die Lähmungserscheinungen im Arm hatten bereits am ersten Tag nach der Operation deutlich nachgelassen und heute verspüre ich gänzlich keine mehr, nur die drei Finger weisen noch ein leichtes Taubheitsgefühl auf, aber die Nerven müssen sich erst erholen, hier muss man etwas Geduld aufbringen.

Seit meiner Rückkehr aus der Klinik sehe ich nur noch positiv geradeaus, und staune selbst über mich, dass mich keinerlei trübe Gedanken mehr heimsuchen, ich bin noch ein wenig schwach, aber es geht mir richtig gut. Ich habe ein schon jetzt ein erhebliches Stück Lebensqualität zurückgewonnen. Ich hoffe, Euch, denen Ähnliches bevorsteht, oder wenn Eure Angehörigen oder Freunde Vergleichbares erwartet, Mut gemacht zu haben, denn das einzige, was ich heute bereue ist, die Operation so lange hinausgezögert zu haben. Ich wünsche Euch von Herzen alles Gute!

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